Sein Schmerz, ihr Schmerz
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von: Deutsche Schmerzliga e.V.
Für Jon Levine und seine Kollegen begann es als Routine-Untersuchung. Die Wissenschaftler der Universität von Kalifornien in San Francisco wollten überprüfen, wie sich Schmerzen nach einer Kieferoperation besser lindern lassen:
Allein durch starke Schmerzmittel (Opioide) - oder durch deren Kombination mit einem Medikament gegen spastische Schmerzen. Dann jedoch sorgte eine unerwartete Beobachtung für Aufregung. Eines der getesteten Mittel, ein so genanntes Kappa- Opioid, wirkte bei Frauen sehr viel stärker schmerzlindernd als bei Männern. Die Forscher verfolgten die heiße Spur in weiteren Untersuchungen.
Stets waren Kappa-Opioide bei Patientinnen wirksamer als bei ihren männlichen Leidensgenossen.
Mit einer niedrigen Dosierung behandelte Männer litten sogar unter stärkeren Schmerzen als jene, die nur ein Scheinmedikament - ein Placebo - bekommen hatten. Auch bei anderen Schmerzmitteln, beispielsweise Mitteln zur örtlichen Betäubung - so genannten Lokalanästhetika - haben Wissenschaftler erst vor wenigen Jahren herausgefunden, dass sie bei Männern und Frauen unterschiedlich stark wirken können. "Geschlechtsunterschiede bei der Reaktion auf Schmerzmittel wurden lange Zeit weitgehend ignoriert", kritisiert Christine Miaskowski, Professorin für Pflegewissenschaft an der Universität von Kalifornien in San Francisco und seit März Präsidentin der US-amerikanischen Schmerzgesellschaft.
Die Unterschiede konnten den Forschern bei Arzneimittelprüfungen auch kaum auffallen: Frauen im gebärfähigen Alter, die schwanger werden und mit ihren hormonellen Schwankungen die Statistik stören könnten, wurden nicht in Arzneimittelstudien aufgenommen. Medikamententests, das war nur etwas für Männer. Selbst im Labor arbeiteten die Wissenschaftler mit männlichen Ratten und Mäusen.
Dies beginnt sich zu ändern. Vor allem in den USA und in Kanada hat eine kleine Gruppe von Forschern begonnen, endlich den weiblichen Anteil der Menschheit mit seinen Besonderheiten zur Kenntnis zu nehmen.
"Untersuchungen belegen", erklärt der Epidemiologe Thomas Kohlmann von der Universität Lübeck, "dass Frauen häufiger unter Schmerzen leiden als Männer und die Pein auch anders erleben, verarbeiten und ausdrücken." Frauen haben zudem häufiger starke und chronische Schmerzen. "Diese Unterschiede", so Kohlmann, "haben mit der Biologie zu tun, aber auch mit psychologischen Mechanismen sowie soziokulturellen Faktoren." Dies alles macht sie zu einem nicht einfachen Forschungsgegenstand.
Eine der vordergründigen biologischen Ursachen für das unterschiedliche Leiden sind verschiedene Krankheitsmuster:
Frauen haben häufiger schmerzhafte chronische Erkrankungen wie rheumatoide Arthritis, ebenso Migräne und Spannungskopfschmerz. Dagegen leiden überwiegend Männer an Cluster-Kopfschmerz und häufiger an Schmerzen in der Brust. Die Mehrzahl der Osteoporose-Kranken ist hingegen weiblich, und bei der Fibromyalgie sind neunmal mehr Frauen betroffen als Männer.
Wenn Wissenschaftler Männer und Frauen im Labor mit experimentellen Schmerzreizen traktieren, fallen die Ergebnisse ebenfalls unterschiedlich aus. Frauen sagen früher "autsch!". Grund ist ihre niedrigere Schmerzschwelle. Niedriger als bei Männern ist auch die weibliche Toleranz gegenüber Schmerzen: Frauen empfinden früher als Männer einen Schmerzreiz als nicht mehr erträglich. Und sie können - dritter Unterschied - Schmerzarten besser unterscheiden. Allerdings sind die Laborbefunde abhängig von der Art des Schmerzreizes.
Der Psychologieprofessor Stefan Lautenbacher, der an den Universitäten von Marburg und Bamberg forscht, hat dies näher untersucht. "Eindeutig sind die Geschlechtsunterschiede insbesondere bei Druckschmerzen sowie bei Schmerzen infolge einer Ischämie genannten Minderdurchblutung", erklärte er bei einer Fachtagung in der Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Frauen reagieren vor allem bei einer Reizung tiefliegender Schmerzfühler (Nozizeptoren) in Muskeln und Sehnen, etwa durch Druck, empfindlicher als Männer. Werden hingegen Nozizeptoren in der Haut gereizt, zum Beispiel durch Hitze oder leichte Stromschläge, ist das weibliche Geschlecht nicht unbedingt sensibler.
Fibromyalgie: geschwächte Schmerzhemmung
Für Lautenbacher erklären diese Unterschiede zumindest teilweise die Häufung der Fibromyalgie bei Frauen. Bei den Betroffenen löst Druck auf so genannte Druckschmerzpunkte ("Tender Points") an Muskeln und Sehnen starke Schmerzen aus. Sie sind besonders schmerzempfindlich.
Eine Ursache dafür könnte eine bei Frauen möglicherweise häufigere Schwäche der körpereigenen Schmerzhemmung sein. "Diese beeinflusst nämlich insbesondere die tiefen Schmerzfühler in der Muskulatur, die auf Druck reagieren", sagt Lautenbacher. Dass die körpereigene Schmerzhemmung bei Fibromyalgie-Patientinnen in der Tat nicht richtig arbeitet, haben Lautenbacher und sein kanadischer Kollege Gary Rollman schon vor einiger Zeit herausgefunden.
"Unklar ist allerdings", warnt der US-Psychologe Roger Fillingim von der Universität von Florida, "welche Bedeutung die Laborbefunde für den klinischen Schmerz tatsächlich haben."
Es gibt jedoch zumindest indirekte Hinweise, dass die andere Art der Schmerzverarbeitung bei Frauen mit einer gesteigerten Empfindlichkeit für experimentelle Schmerzreize und einem erhöhten Risiko verknüpft ist, chronische Schmerzen zu entwickeln. Denn eine ganze Reihe von Schmerzformen - Gesichtsschmerzen, Fibromyalgie, Spannungskopfschmerz oder Reizdarm, die bei Frauen häufig sind - gehen mit einer gesteigerten Schmerzempfindlichkeit einher.
Ebenso belegen Untersuchungen von Fillingim, dass junge gesunde Frauen, die gerade mehrere Schmerzepisoden hinter sich hatten, empfindlicher auf Hitzereize reagierten. Bei Männern konnten die Forscher derartige Sensibilisierungsprozesse nicht feststellen.
Das hormonelle Auf und Ab kann Migräne triggern
Die jeweiligen Sexualhormone - Östrogene bei Frauen, Testosteron bei Männern - sind wesentlich an der unterschiedlichen Reaktion auf Schmerzen und der Schmerzverarbeitung der Geschlechter beteiligt. Besonders deutlich wird dies bei der Migräne:
Oft ist das hormonelle Auf und Ab im weiblichen Zyklus ein Auslöser ("Triggerfaktor") der pochend-pulsierenden Schmerzattacken. Entsprechend verschwinden bei vielen Frauen die Kopfschmerzen etwa während einer Schwangerschaft, wenn die hormonelle Berg- und Tal-Fahrt ein Weilchen Pause hat.
Östrogen, so scheint es, verstärkt die Weiterleitung schmerzhafter Impulse aus der Peripherie ins Zentralnervensystem. Demgegenüber wirkt das Gelbkörperhormon Progesteron eher dämpfend auf das Nerven- und Schmerzsystem. Besonders deutlich wird dies in der Schwangerschaft: Wenn der Progesteronspiegel im letzten Schwangerschaftsdrittel nach oben schießt, steigt auch die Schmerzschwelle - die körpereigene Schmerzhemmung, das Endorphin-System, wird aktiviert. So bereitet sich der Körper auf die Geburt vor.
Erhöht ist der Progesteronspiegel auch in der so genannten Lutealphase vor der Menstruation. Auch in dieser Zeit sind Frauen etwas weniger schmerzempfindlich.
Gleiches gilt auch für die Zeit nach den Wechseljahren. Roger Fillingim hat mit Kollegen untersucht, ob eine Hormon- Ersatz-Therapie Schmerzschwelle und Toleranz beeinflusst.
Ergebnis: Frauen, die keine Hormone schlucken, haben eine Schmerzschwelle, die jener von Männern entspricht. Hormonpillen erniedrigen demgegenüber Schmerzschwelle und Toleranz in Bereiche, die für Frauen vor den Wechseljahren typisch ist.
Östrogen beeinflusst entzündliche Erkrankungen
Wie die Geschlechtshormone die Schmerzempfindlichkeit beeinflussen könnten, haben Jon Levine und seine Kollegen in zahlreichen Studien mit Ratten untersucht. Östrogen hemmt beispielsweise über eine Kaskade von Gewebshormonen Entzündungsreaktionen und kann so Leiden wie Gelenkentzündungen verstärken.
Rattenweibchen, die vor der Geschlechtsreife kastriert und dann Testosteron-Injektionen erhielten, zeigten Schmerzreaktionen, die für männliche Tiere typisch sind. Umgekehrt zeigten kastrierte männliche Tiere das gleiche Schmerz-Verhaltensmuster wie Weibchen, wenn sie Östrogen erhielten. "Östrogen", erklärt Anna Maria Aloisi von der Universität in Siena, "steigert die Aufmerksamkeit und die Aktivität des Nervensystems.
Testosteron hilft demgegenüber, die Reaktivität des Nervensystems im Zaum zu halten." Männliche Tiere, sagt die Forscherin schmunzelnd im Gespräch mit NOVA, "warten stoisch ab, bis der Schmerz aufhört, während Rättinnen aufgeregt reagieren."
Die Wirkung der Geschlechtshormone ist keineswegs auf die Sexualorgane und Stoffwechselprozesse beschränkt. "Sie agieren im Nervensystem als Botenstoffe", weiß Aloisi. So sorgen sie dafür, dass männliche und weibliche Gehirne in einigen Bereichen unterschiedlich "ticken". Sie beeinflussen Stimmungen und Lernprozesse und spielen auch bei verschiedenen Störungen und Erkrankungen des Denkorgans eine Rolle. Zwar sind derartige Zusammenhänge schon seit vielen Jahren bekannt, aber erst seit kurzem beginnen die Forscher zu verstehen, was sich auf der Ebene der Moleküle und Zellen genau abspielt, wenn Hormone ihre Wirkung im Gehirn entfalten.
Hormon- und Nervensystem sind eng verwoben
Möglich ist dies, weil Hormon- und Nervensystem eng miteinander verwoben sind. Nervenzellen tragen auf ihrer Oberfläche Bindungsstellen - Rezeptoren - für Sexualhormone. Wenn diese andocken, schicken sie ein Signal ins Zellinnere und beeinflussen so die Produktion anderer Hirnbotenstoffe und damit die Kommunikation zwischen den Nervenzellen.
Östrogen reguliert beispielsweise in einigen Gehirnregionen, in denen höhere geistige Prozesse ablaufen, den Stoffwechsel des Neurotransmitters Serotonin.
Dieser ist ein Tausendsassa unter den Hirnbotenstoffen: Je nachdem, an welchem der bislang 17 bekannten unterschiedlichen Rezeptoren er andockt, beeinflusst er die Aktivität der Muskulatur, bremst Aggressionen oder moduliert Gefühle und Stimmungen - und beeinflusst so auch die Verarbeitung von Schmerz.
Deshalb spielt bei der stärkeren Schmerzbelastung von Frauen möglicherweise auch die Tatsache eine Rolle, dass diese häufiger unter Depressionen und Angststörungen leiden als Männer. Denn Schmerz - vor allem chronischer Schmerz, der zu einer eigenständigen Erkrankung geworden ist - wird durch viele Einflussgrößen gesteuert, körperlichen wie seelischen.
Trotz oder wegen ihrer stärkeren Belastung kommen Frauen besser mit Schmerz zurecht als Männer.
Eine Ursache könnten ihre Erfahrungen mit Menstruations- und Geburtsschmerz sein.
Ihre besser entwickelte Kommunikationsfähigkeit hilft Frauen, mit Schmerzen fertig zu werden: Sie sprechen darüber, beispielsweise mit Freunden oder mit anderen Patienten in Selbsthilfegruppen.
"Frauen haben einfach bessere Bewältigungsstrategien, sie lenken sich ab, suchen Hilfe", weiß Amy Niles, Direktorin des US-nationalen Ressourcenzentrums für Frauengesundheit in Brunswick.
Demgegenüber machen Männer gute Miene zum bösen Spiel. Sie versuchen Schmerzen so lange wie möglich zu ignorieren. Dies hat natürlich nicht nur biologische Gründe: In den meisten Kulturen dürfen Mädchen und Frauen Schmerz zeigen, nicht aber Jungen und Männer.
Ärzte nehmen die Schmerzen von Frauen oft weniger ernst
Die Gabe der Kommunikation sichert Frauen jedoch keineswegs eine gute Schmerztherapie.
Männliche Ärzte nehmen ihre Beschwerden oft nicht ernst, halten die Schmerzen gar für "nicht real".
Angesichts des bei Medizinern weit verbreiteten Vorurteils, dass Frauen Schmerz besser ertragen können, kann dies fatale Folgen haben: Frauen sind schmerztherapeutisch oft schlechter versorgt als Männer.
"Die Geschlechtszugehörigkeit", sagt Roger Fillingim, "ist jedoch nur einer von vielen biopsychosozialen Faktoren, welche die Schmerzverarbeitung beeinflussen."
Gleichwohl, so hofft der Psychologe, "wird die Erforschung dieser Zusammenhänge Konsequenzen für die Behandlung haben."
Bestimmte Antiöstrogene könnten beispielsweise die Therapiemöglichkeiten bei hormonell gesteuerten Schmerzsyndromen ergänzen.
Ebenso ist denkbar, dass verhaltensmedizinisch- psychologische Strategien besser auf die jeweiligen Besonderheiten der Geschlechter zugeschnitten werden. Und von den aktiveren weiblichen Bewältigungsstrategien könnten Männer schon heute profitieren.